Donnerstag, 23. März 2023

Gerhard Marcks und die Diskuswerferin

 

 
Bei der Vorbereitung für die Ausstellung »Kosmos Marcks. Auf dem Sportplatz« habe ich eine wirklich spannende Entdeckung gemacht: Ein Zeitungsausschnitt (Inv. Nr. B5055) aus dem Jahr 1928, der (mit Foto) über den Weltrekord der polnischen Diskuswerferin Halina Konopacka (1900–1989) bei den Olympischen Spielen in Amsterdam berichtet. Informationen zu diesem olympischen Meilenstein kann man schnell im Internet recherchieren,(1) faszinierend ist, dass Marcks so interessiert an der Körperhaltung der Olympionikin gewesen sein muss, dass der Bildhauer das Foto nicht nur aus der Zeitung ausschnitt, sondern es aufbewahrte und es 42 Jahre später wieder zur Hand nahm, um nach ihm eine Plakette zu entwerfen, die er für einen Künstlerwettbewerb einreichen wollte: Für die Olympischen Spiele in München 1972 war eine Plakette ausgeschrieben, die allen Teilnehmer*innen der Spiele als Andenken geschenkt werden sollte. Marcks konzipierte gleich drei Motive: einen Läufer (er hatte bereits 1952 eine Sportplakette mit einer Läufer-Darstellung für die Stadt Mannheim umgesetzt), einen Reiter mit Pferd und eine Diskuswerferin (Inv. Nr. 433/14). Seine Entwürfe wurden schließlich nicht umgesetzt – Fritz König (1924–2017) bekam den Auftrag – aber sie sind als Bronzegüsse erhalten. Marcks entwarf ein Jahr später die Rückseite der olympischen Siegermedaillen. (Das ist jedoch eine andere Geschichte.)

Die Plakette mit der Diskuswerferin zeigt die Athletin in der exakt gleichen (wenn auch spiegelverkehrten) Körperhaltung wie Konopacka(2): Das Gewicht deutlich auf das rechte (Stand-)Bein gesetzt; das andere Bein befindet sich als Spielbein freier und nur die Zehen berühren den Boden. Der Oberkörper ist gestreckt und auf ihre rechte Seite geneigt. Mit angewinkelten Armen hält sie den Diskus über ihrem Kopf. Mit dieser Darstellung enttäuscht Marcks eigentlich die Erwartungen des*r Betrachter*in an eine Diskuswerfer*innen-Darstellung: Durch die vielen Antiken sind wir daran gewöhnt, dass der Werfer (bis in die Neuzeit scheint es keine Darstellungen von Werferinnen zu geben) sich in einer Rotationsbewegung mit ausgestrecktem Arm und dem Diskus in einer Hand befindet. Oder, dass der Diskuswerfer in Konzentration sitzt (beziehungsweise steht) und den Diskus mehr als Beiwerk festhält. Menschen, die das Sportgerät über ihrem Kopf halten, sind eher selten.

Trotzdem gibt es nun diese Aufnahme und Marcks schien von ihr mehr fasziniert zu sein als von allen antiken Werfern, die er fraglos kannte. Aber warum? Marcks war nie ein Bildhauer der ausladenden Gesten, auch auf dem Sportplatz nicht. Ihm werden aber zwei Dinge in der Fotografie Konopackas sofort aufgefallen sein: Die zahlreichen Dreiecke, die u. a. zwischen ihren Beinen und durch die angewinkelten Arme gebildet werden, und zum anderen die geraden Achsen, die von ihren rechten Zehenspitzen bis zum linken Ellenbogen und vom linken Knöchel bis zum Kopf durch den Körper führen. Beide Beobachtungen entsprechen Marcks‘ eigenem Formgeschmack und lassen sich problemlos in seine Bildsprache übernehmen. Die Einheit von Konzentration und Form könnten der Grund gewesen sein, warum der Bildhauer den Artikel von 1928 bis zu seinem Tod 1981 aufbewahrte.

Ein Gedanke zum Abschluss. Es gibt kaum kunsthistorische Referenzen für seine Diskuswerferin: Aber das Archäologische Nationalmuseum in Athen besitzt einen kleinen Diskuswerfer mit eben jener Körperhaltung (um 450nach Christus, Bronze, Höhe 19 cm, Inv. Nr. X7412). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Marcks ihn auch kannte und begeistert von der Verwandtschaft seiner Inspirationsquelle und dem Figürchen war.

(1) Zum Beispiel, dass Frauen erst ab 1928 überhaupt bei den Olympischen Spielen im Diskuswurf antreten durften, dass Konopackas Weltrekord bis 1932 bestehen blieb oder ihre Kürung zur »schönsten Frau der Olympischen Spiele« in Amsterdam ist schnell herausgefunden. 

(2) Marcks übernimmt sogar ihre Position im Wurfkreis.