Eine grundsätzliche Überlegung
zur Ikonografie von „Krieg und Frieden“ in Bleicherode
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Abb. 1) Gerhard Marcks: Krieg und Frieden, 1936-1938, aufgestellt 1939 |
Das Denkmal „Krieg und Frieden“ in Bleicherode (Abb. 1) gehört
zu den wichtigsten Kunstwerken, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland
entstanden sind. Eine solche Einschätzung mag überraschen, denn Kriegsdenkmäler
– und schon gar nicht aus der Zeit des Dritten Reichs – gelten gemeinhin nicht
als Höhepunkte der deutschen Kultur. Als solche werden eher Werke verstanden,
die in dieser Zeit im Exil entstanden: Zeichen eines anderen Deutschlands.
Aber auch das Denkmal in Bleicherode ist ein Zeichen eines
anderen Deutschlands. Ein anderes Deutschland, das, obwohl nicht offensiv im
Widerstand, doch hintergründig und feinfühlig für etwas anderes stand als die nationalsozialistischen
Machthaber. Ein bürgerliches Deutschland, das höchst verschlüsselt daherkommt –
und heutigen Betrachtern viel fremder ist als das aggressive nationalsozialistische
Deutschland, das sich jeden Abend mindestens auf einem Fernsehkanal in
Erinnerung rufen darf.
Politisch betrachtet war Bleicherode Provinz. Darum konnte
dieses Werk hier, fernab von den kulturpolitischen Debatten in der Hauptstadt,
entstehen. Der Bildhauer Gerhard Marcks (1889-1981) war 1933 aus seinem Lehramt
entlassen worden und galt als „entartet“, aber hier konnte er – ganz nach
seinen Vorstellungen – ein Kunstwerk schaffen, das ihm die Preussag finanzierte.
„Krieg und Frieden“ ist damit ein Beispiel für kulturpolitische Freiräume, die
es im Dritten Reich gab.
I
Es gibt drei Stufen des kulturellen Verstehens: Die erste ist
der „Wortschatz“, also ob einzelne Elemente inhaltlich verstanden werden,
meistens nach der Formel „X bedeutet Y“. Im Fall der Figurengruppe in
Bleicherode gehören Elemente wie Schwert und Lorbeer zu diesem „Wortschatz“.
Das eine Zeichen gilt als Symbol von Kampf oder Krieg, das andere für den
Frieden, für Dichter oder Sportler. Vor allem Wikipedia ermöglicht heute vielen
Menschen den Zugang zu diesem Wortschatz.
Die zweite Stufe betrifft Grammatik und Syntax, also ob
jemand in der Lage ist, Logik und Zusammenhänge zwischen den Zeichen zu entdecken.
Bei der einfachen Frage „Wo befinden sich die Zeichen?“, hilft Wikipedia nicht
mehr. Hier geht es um eine kulturelle Praxis, die gelernt, geübt und angewandt
wird. Da wird dann zum Beispiel wichtig, dass der „Krieg“ das Ziehen des
Schwertes andeutet, also nicht Kampf, wohl aber die Möglichkeit dazu, oder das
der „Frieden“ sich überhaupt nicht für dasjenige interessiert, worauf sein
Partner zu schauen scheint. Die dritte Stufe ist dann die des Verstehens, nicht
der Zeichen, sondern des spezifischen Zusammenhangs in seinem Kontext.
Die kulturelle Funktion von Kunstwerken ist auch, dass sie
uns daran erinnern, dass Verstehen und Wortschatz etwas anderes sind. Es geht
ja beim Verstehen gerade nicht darum, ob man etwas anders sagen kann („X
bedeutet Y“), sondern darin, dass es genau so gesagt wird, und dass diese
Zuspitzung hier und jetzt für einen Leser oder einen Betrachter Bedeutung bekommt.
Jeder Europäer wird „Krieg und Frieden“ wohl als Kriegsdenkmal identifizieren,
aber nicht alle sehen die Implikationen, die sich aus der Positionierung von
Schwert und Lorbeerkranz ergeben. Wichtig scheint weiterhin, dass sich Betrachter
auch durch geteiltes Wissen unterscheiden können. Individuelle Bildung enthält
auch die Möglichkeit des sozialen Unterschieds. Nicht jeder Betrachter sieht
sofort, dass „Krieg und Frieden“ ein Antikenzitat in sich trägt, das in seiner
kulturellen Komplexität weit über den Lorbeer hinausreicht. Und
selbstverständlich können ein solcher Wortschatz oder eine kulturelle Praxis
verloren gehen.
II
Gerhard Marcks war 1919 einer der ersten Lehrer am Bauhaus in
Weimar. 1925 wechselte er an die Burg Giebichenstein in Halle. Ab 1928 leitete
er die Schule und in dieser Funktion protestierte er 1933 gegen die Entlassung
seiner jüdischen Kollegen. Als Konsequenz wurde auch er entlassen. Während
viele Kollegen das Land verließen, blieb Marcks in Deutschland. Desto
deutlicher sich die Umrisse einer offiziellen Kunstdoktrin des Dritten Reichs
herausbildeten, desto mehr wurde sein Werk zu einer Alternative für diejenigen,
die sich a) für Kunst interessierten und sich b) von den Nationalsozialisten
unterscheiden wollten. Dazu gehörte der Bergassessor Paul Kropp. Er schlug
Marcks als Bildhauer für das Denkmal für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Mitarbeiter des Bergwerks in Bleicherode vor.
Im Oktober 1936 schrieb Marcks an Kropp, dass ihm
nach vielen Versuchen die Idee gekommen war, um „Krieg und Frieden“, als
Zwillinge darzustellen. Gefragt
war „Arbeiter und Wehrmann“, aber Marcks machte daraus etwas anderes. Nicht
zwei Menschen, die das gleiche Ziel haben – und zeittypisch in die gleiche
Richtung schauen –, sondern zwei, die offensichtlich andere Interessen haben,
der eine extrovertiert, der andere introvertiert. Es ist bemerkenswert, dass
Kropp und die Chefs der Preussag diese radikale Änderung der Idee des Denkmals akzeptierten.
Sie verstanden, dass der Künstler nicht einfach eine Idee illustrieren wollte,
sondern einen anderen komplizierten Weg ging. Sie fanden diesen Weg unterstützenswert;
auch weil sie sich damit von anderen Menschen unterscheiden konnten, die das
nicht verstanden, die ein Schwert sahen und dachten „Kriegsdenkmal“. Im
Hintergrund laufen hier gesellschaftliche Auflösungsprozesse. Die nationalsozialistische
Durchsetzung der sogenannten „Volksgemeinschaft“ hatte die Klassengesellschaft
zerstört und darauf reagierte eine Oberschicht, indem sie sich durch geheime Codes
und Zeichen abschloss. Aus solchen Absonderungsprozessen kann – wie in
Bleicherode – Kunst entstehen.
III
In einem Brief im November 1937 erklärte Marcks:
„Der Krieg, das heroisch zerstörerische Element, ist nach Heraklit der Anreger,
der Frieden aber ist die Mutter aller Dinge, der Musenfreund, der in sich
selbst ruht. Schiller redet davon, dass der Dichter mit dem König gehen soll,
und das wäre die Vermenschlichung dieses Paars. Nicht dargestellt soll werden
der deutsche Soldat und der deutsche Arbeiter [das war offensichtlich der
ursprüngliche Auftrag], denn der Alltag ist fade“. Der
Bildhauer zitierte gerade nicht die Heraklit zugeschriebene Floskel „Der Krieg
ist der Vater aller Dinge“, sondern präsentierte eine subtilere, in diesem
Kontext subversive Lesart. Zerstörung ist für Marcks – der den Weltkrieg als
Soldat erlebt hat – prinzipiell nichts Schlechtes, sondern ermöglicht einen
Neuanfang. Das ist auch das Thema seines expressionistischen Reliefs „Apokalyptische
Reiter“ von 1919. Die Zerstörung wütet von rechts nach links, aber rechts unten
wachsen neue Blumen (Abb. 2).
Abb 2) Relief apokalyptische Reiter, 1919
Im paraphrasierten Zitat aus Schillers „Jungfrau
von Orleans“ versteckt sich Kritik an der Zeit. Denn bei Schiller heißt es, die
Kunst habe ihr eigenes Reich, was allen damaligen politischen Fantasien von
„Gleichschaltung“ radikal (aber verschlüsselt) widerspricht. Die Briefstelle
belegt, dass das Symbol des Lorbeers den passiven Jüngling sowohl als „Frieden“
wie auch als Künstler („Dichter“) identifiziert. Die Briefe von Marcks an Kropp
zeigen ein enormes Maß an Bildung. Der Bildhauer mischt mit großer
Selbstverständlichkeit Heraklit und Schiller und erwartet nun aber nicht nur,
dass der Leser die Textstellen kennt, sondern auch das Umfeld, um dann zu
verstehen, was der Briefschreiber meint. Diesen Mechanismus gibt es auch in
seiner Kunst.
IV
Marcks setzte sich Mitte der 1930er-Jahre intensiv mit dem
Doppelstandbild auseinander. Dabei ging es immer um die Beziehung zwischen zwei
Figuren und darum, ob ein Betrachter versteht, auf welche berühmten Figuren aus
der Kunstgeschichte Marcks verweist. Ob der Betrachter also das Spiel mit
Inhalten und die subversive Potenz versteht. Im Fall des Denkmals in
Bleicherode geht es vor allem um eine der berühmtesten Antiken überhaupt, die
sogenannte Gruppe von San Ildefonso, eine römische Figurengruppe, die sich
heute im Prado befindet (Abb. 3). Marcks kannte die
Gipskopie aus Goethes Wohnhaus in Weimar. Gemeinhin wurde angenommen, dass es
sich bei dieser Gruppe um die Dioskuren Kastor und Polydeukes handelt, meistens
bekannt unter ihren lateinischen Namen Castor und Pollux. Beide sind Söhne der
Leda und wurden auch in der gleichen Nacht gezeugt, aber in Castors Fall war
der Vater ein Mensch und im Fall seines Bruders ein Gott, nämlich Zeus. Die
Bildtradition der Gruppe, die in Deutschland durch viele Kopien und Texte bekannt
war, ermöglichte es Marcks,
zwei gleichgroße leicht unterschiedliche Figuren als Zwillinge darzustellen.
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Abb. 3) Sog. Gruppe von San Ildefonso, um 10 v. Chr. |
Die beiden Zwillinge waren zwar unzertrennlich aber
keineswegs eineiig. Nach ihrem Tod führte das dazu, dass der eine (der Sohn des
Gottes) in den Olymp durfte, während der andere (der Sohn des Menschen) in den
Hades absteigen musste. Über das antike Motiv kommt also ein absoluter
Gegensatz zwischen den beiden Gestalten ins Spiel. Pollux wehrte sich gegen das
gemeinsame Los und von dieser unzertrennlichen Bruderliebe berührt, entschied
Zeus, dass sie jeweils einen Tag im Hades und einen Tag auf den Olymp
verbringen durften. Über den motivischen Umweg wird im Denkmal in Bleicherode also
das Motiv des ewigen Kreislaufs angesprochen.
Marcks zeigt, dass für ihn Krieg und Frieden zwei
gegensätzliche Kräfte der Geschichte sind, die wesentlich miteinander verbunden
sind. Die Interaktion zwischen den Gegensätzen ist der Motor der Geschichte.
Darin verbirgt sich eine konservative Auffassung, da eine Erlösung aus diesem
Prozess nicht möglich ist. Es gibt keinen Fortschritt, so die typisch
konservative, pessimistische Grundaussage. Die nationalsozialistische Idee, dass
der Krieg das Ziel der Geschichte ist, ließ sich mit diesem Denkmal nicht
illustrieren.
Für die Identifikation von „Krieg und Frieden“ in
Bleicherode als Zwillinge gibt es zwei Belege. Der erste ist die oben zitierte,
glücklicherweise überlieferte Briefpassage. Der zweite ist der hier vorgeführte
argumentative Umweg über die Rezeption der Ildefonso-Gruppe. Ohne den ersten
würden die meisten heutigen Leser den zweiten als völlig abwegig ablehnen. Dank
der Briefstelle kann aber annehmlich gemacht werden, dass dieses Kunstwerk eine
komplexe Rezeption erwartet und verdient.
Arie Hartog
(Dieser Text erschien 2015 im 24. Jahrgang der Nordhäuser
Nachrichten).