Freitag, 24. April 2015

Schiller lesen und ein Denkmal sehen?

Eine grundsätzliche Überlegung zur Ikonografie von „Krieg und Frieden“ in Bleicherode
Abb. 1) Gerhard Marcks: Krieg und Frieden, 1936-1938, aufgestellt 1939

Das Denkmal „Krieg und Frieden“ in Bleicherode (Abb. 1) gehört zu den wichtigsten Kunstwerken, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland entstanden sind. Eine solche Einschätzung mag überraschen, denn Kriegsdenkmäler – und schon gar nicht aus der Zeit des Dritten Reichs – gelten gemeinhin nicht als Höhepunkte der deutschen Kultur. Als solche werden eher Werke verstanden, die in dieser Zeit im Exil entstanden: Zeichen eines anderen Deutschlands.
Aber auch das Denkmal in Bleicherode ist ein Zeichen eines anderen Deutschlands. Ein anderes Deutschland, das, obwohl nicht offensiv im Widerstand, doch hintergründig und feinfühlig für etwas anderes stand als die nationalsozialistischen Machthaber. Ein bürgerliches Deutschland, das höchst verschlüsselt daherkommt – und heutigen Betrachtern viel fremder ist als das aggressive nationalsozialistische Deutschland, das sich jeden Abend mindestens auf einem Fernsehkanal in Erinnerung rufen darf.
Politisch betrachtet war Bleicherode Provinz. Darum konnte dieses Werk hier, fernab von den kulturpolitischen Debatten in der Hauptstadt, entstehen. Der Bildhauer Gerhard Marcks (1889-1981) war 1933 aus seinem Lehramt entlassen worden und galt als „entartet“, aber hier konnte er – ganz nach seinen Vorstellungen – ein Kunstwerk schaffen, das ihm die Preussag finanzierte. „Krieg und Frieden“ ist damit ein Beispiel für kulturpolitische Freiräume, die es im Dritten Reich gab.[1]

I
Es gibt drei Stufen des kulturellen Verstehens: Die erste ist der „Wortschatz“, also ob einzelne Elemente inhaltlich verstanden werden, meistens nach der Formel „X bedeutet Y“. Im Fall der Figurengruppe in Bleicherode gehören Elemente wie Schwert und Lorbeer zu diesem „Wortschatz“. Das eine Zeichen gilt als Symbol von Kampf oder Krieg, das andere für den Frieden, für Dichter oder Sportler. Vor allem Wikipedia ermöglicht heute vielen Menschen den Zugang zu diesem Wortschatz.
Die zweite Stufe betrifft Grammatik und Syntax, also ob jemand in der Lage ist, Logik und Zusammenhänge zwischen den Zeichen zu entdecken. Bei der einfachen Frage „Wo befinden sich die Zeichen?“, hilft Wikipedia nicht mehr. Hier geht es um eine kulturelle Praxis, die gelernt, geübt und angewandt wird. Da wird dann zum Beispiel wichtig, dass der „Krieg“ das Ziehen des Schwertes andeutet, also nicht Kampf, wohl aber die Möglichkeit dazu, oder das der „Frieden“ sich überhaupt nicht für dasjenige interessiert, worauf sein Partner zu schauen scheint. Die dritte Stufe ist dann die des Verstehens, nicht der Zeichen, sondern des spezifischen Zusammenhangs in seinem Kontext.
Die kulturelle Funktion von Kunstwerken ist auch, dass sie uns daran erinnern, dass Verstehen und Wortschatz etwas anderes sind. Es geht ja beim Verstehen gerade nicht darum, ob man etwas anders sagen kann („X bedeutet Y“), sondern darin, dass es genau so gesagt wird, und dass diese Zuspitzung hier und jetzt für einen Leser oder einen Betrachter Bedeutung bekommt. Jeder Europäer wird „Krieg und Frieden“ wohl als Kriegsdenkmal identifizieren, aber nicht alle sehen die Implikationen, die sich aus der Positionierung von Schwert und Lorbeerkranz ergeben. Wichtig scheint weiterhin, dass sich Betrachter auch durch geteiltes Wissen unterscheiden können. Individuelle Bildung enthält auch die Möglichkeit des sozialen Unterschieds. Nicht jeder Betrachter sieht sofort, dass „Krieg und Frieden“ ein Antikenzitat in sich trägt, das in seiner kulturellen Komplexität weit über den Lorbeer hinausreicht. Und selbstverständlich können ein solcher Wortschatz oder eine kulturelle Praxis verloren gehen.

II
Gerhard Marcks war 1919 einer der ersten Lehrer am Bauhaus in Weimar. 1925 wechselte er an die Burg Giebichenstein in Halle. Ab 1928 leitete er die Schule und in dieser Funktion protestierte er 1933 gegen die Entlassung seiner jüdischen Kollegen. Als Konsequenz wurde auch er entlassen. Während viele Kollegen das Land verließen, blieb Marcks in Deutschland. Desto deutlicher sich die Umrisse einer offiziellen Kunstdoktrin des Dritten Reichs herausbildeten, desto mehr wurde sein Werk zu einer Alternative für diejenigen, die sich a) für Kunst interessierten und sich b) von den Nationalsozialisten unterscheiden wollten. Dazu gehörte der Bergassessor Paul Kropp. Er schlug Marcks als Bildhauer für das Denkmal für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Mitarbeiter des Bergwerks in Bleicherode vor.
Im Oktober 1936 schrieb Marcks an Kropp, dass ihm nach vielen Versuchen die Idee gekommen war, um „Krieg und Frieden“, als Zwillinge darzustellen.[2] Gefragt war „Arbeiter und Wehrmann“, aber Marcks machte daraus etwas anderes. Nicht zwei Menschen, die das gleiche Ziel haben – und zeittypisch in die gleiche Richtung schauen –, sondern zwei, die offensichtlich andere Interessen haben, der eine extrovertiert, der andere introvertiert. Es ist bemerkenswert, dass Kropp und die Chefs der Preussag diese radikale Änderung der Idee des Denkmals akzeptierten. Sie verstanden, dass der Künstler nicht einfach eine Idee illustrieren wollte, sondern einen anderen komplizierten Weg ging. Sie fanden diesen Weg unterstützenswert; auch weil sie sich damit von anderen Menschen unterscheiden konnten, die das nicht verstanden, die ein Schwert sahen und dachten „Kriegsdenkmal“. Im Hintergrund laufen hier gesellschaftliche Auflösungsprozesse. Die nationalsozialistische Durchsetzung der sogenannten „Volksgemeinschaft“ hatte die Klassengesellschaft zerstört und darauf reagierte eine Oberschicht, indem sie sich durch geheime Codes und Zeichen abschloss. Aus solchen Absonderungsprozessen kann – wie in Bleicherode – Kunst entstehen.

III
In einem Brief im November 1937 erklärte Marcks: „Der Krieg, das heroisch zerstörerische Element, ist nach Heraklit der Anreger, der Frieden aber ist die Mutter aller Dinge, der Musenfreund, der in sich selbst ruht. Schiller redet davon, dass der Dichter mit dem König gehen soll, und das wäre die Vermenschlichung dieses Paars. Nicht dargestellt soll werden der deutsche Soldat und der deutsche Arbeiter [das war offensichtlich der ursprüngliche Auftrag], denn der Alltag ist fade“.[3] Der Bildhauer zitierte gerade nicht die Heraklit zugeschriebene Floskel „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“, sondern präsentierte eine subtilere, in diesem Kontext subversive Lesart. Zerstörung ist für Marcks – der den Weltkrieg als Soldat erlebt hat – prinzipiell nichts Schlechtes, sondern ermöglicht einen Neuanfang. Das ist auch das Thema seines expressionistischen Reliefs „Apokalyptische Reiter“ von 1919. Die Zerstörung wütet von rechts nach links, aber rechts unten wachsen neue Blumen (Abb. 2).[4]
 
Abb 2) Relief apokalyptische Reiter, 1919

Im paraphrasierten Zitat aus Schillers „Jungfrau von Orleans“ versteckt sich Kritik an der Zeit. Denn bei Schiller heißt es, die Kunst habe ihr eigenes Reich, was allen damaligen politischen Fantasien von „Gleichschaltung“ radikal (aber verschlüsselt) widerspricht. Die Briefstelle belegt, dass das Symbol des Lorbeers den passiven Jüngling sowohl als „Frieden“ wie auch als Künstler („Dichter“) identifiziert. Die Briefe von Marcks an Kropp zeigen ein enormes Maß an Bildung. Der Bildhauer mischt mit großer Selbstverständlichkeit Heraklit und Schiller und erwartet nun aber nicht nur, dass der Leser die Textstellen kennt, sondern auch das Umfeld, um dann zu verstehen, was der Briefschreiber meint. Diesen Mechanismus gibt es auch in seiner Kunst.[5]

IV
Marcks setzte sich Mitte der 1930er-Jahre intensiv mit dem Doppelstandbild auseinander. Dabei ging es immer um die Beziehung zwischen zwei Figuren und darum, ob ein Betrachter versteht, auf welche berühmten Figuren aus der Kunstgeschichte Marcks verweist. Ob der Betrachter also das Spiel mit Inhalten und die subversive Potenz versteht. Im Fall des Denkmals in Bleicherode geht es vor allem um eine der berühmtesten Antiken überhaupt, die sogenannte Gruppe von San Ildefonso, eine römische Figurengruppe, die sich heute im Prado befindet (Abb. 3).[6] Marcks kannte die Gipskopie aus Goethes Wohnhaus in Weimar. Gemeinhin wurde angenommen, dass es sich bei dieser Gruppe um die Dioskuren Kastor und Polydeukes handelt, meistens bekannt unter ihren lateinischen Namen Castor und Pollux. Beide sind Söhne der Leda und wurden auch in der gleichen Nacht gezeugt, aber in Castors Fall war der Vater ein Mensch und im Fall seines Bruders ein Gott, nämlich Zeus. Die Bildtradition der Gruppe, die in Deutschland durch viele Kopien und Texte bekannt war,[7] ermöglichte es Marcks, zwei gleichgroße leicht unterschiedliche Figuren als Zwillinge darzustellen.

 
Abb. 3) Sog. Gruppe von San Ildefonso, um 10 v. Chr. 

Die beiden Zwillinge waren zwar unzertrennlich aber keineswegs eineiig. Nach ihrem Tod führte das dazu, dass der eine (der Sohn des Gottes) in den Olymp durfte, während der andere (der Sohn des Menschen) in den Hades absteigen musste. Über das antike Motiv kommt also ein absoluter Gegensatz zwischen den beiden Gestalten ins Spiel. Pollux wehrte sich gegen das gemeinsame Los und von dieser unzertrennlichen Bruderliebe berührt, entschied Zeus, dass sie jeweils einen Tag im Hades und einen Tag auf den Olymp verbringen durften. Über den motivischen Umweg wird im Denkmal in Bleicherode also das Motiv des ewigen Kreislaufs angesprochen.

Marcks zeigt, dass für ihn Krieg und Frieden zwei gegensätzliche Kräfte der Geschichte sind, die wesentlich miteinander verbunden sind. Die Interaktion zwischen den Gegensätzen ist der Motor der Geschichte. Darin verbirgt sich eine konservative Auffassung, da eine Erlösung aus diesem Prozess nicht möglich ist. Es gibt keinen Fortschritt, so die typisch konservative, pessimistische Grundaussage. Die nationalsozialistische Idee, dass der Krieg das Ziel der Geschichte ist, ließ sich mit diesem Denkmal nicht illustrieren.
Für die Identifikation von „Krieg und Frieden“ in Bleicherode als Zwillinge gibt es zwei Belege. Der erste ist die oben zitierte, glücklicherweise überlieferte Briefpassage. Der zweite ist der hier vorgeführte argumentative Umweg über die Rezeption der Ildefonso-Gruppe. Ohne den ersten würden die meisten heutigen Leser den zweiten als völlig abwegig ablehnen. Dank der Briefstelle kann aber annehmlich gemacht werden, dass dieses Kunstwerk eine komplexe Rezeption erwartet und verdient.

Arie Hartog











(Dieser Text erschien 2015 im 24. Jahrgang der Nordhäuser Nachrichten).




[1] Zur Geschichte des Denkmals: Arie Hartog: Teamwork gegen den Geist der Zeit, in: Festschrift 100 Jahre Bergbau Bleicherode, Bleicherode 1999, S. 95–99; Heidelore Kneffel: „... nach griechischem Konzept gearbeitet.“ Die Doppelstatue „Krieg und Frieden“ von Gerhard Marcks in Bleicherode, in: Heute und einst. Jahrbuch des Landkreises Nordhausen 8 (2000), S. 161-172. Siehe auch: www.denkmalbleicherode.de.
[2] Gerhard Marcks an Paul Kropp, Berlin 27.10.1936 (Privatbesitz).
[3] Gerhard Marcks an Paul Kropp, Berlin 15.11.1937 (Privatbesitz).
[4] Veronika Wiegartz: „Angst hat man eigemtlich gar nicht dabei, aber Hoffnung auch nicht.“. Gerhard Marcks und der Erste Weltkrieg, in: Ursel Berger, Gundula Mayr und Veronika Wiegartz (Hg.): Bildhauer sehen den ersten Weltkrieg, Bremen 2014, S. 142-163.
[5] Hier zeigt sich Marcks in der Tradition des europäischen humanistischen Künstlers.
[6] Heute wird die Gruppe als „Dankopfer des Orest und Pylades“ gedeutet. Vgl. Stephan F. Schröder: Katalog der antiken Skulpturen des Museo des Prado in Madrid, Bd. 2. Idealplastik, Mainz 2004, S. 371-379.
[7] Vgl. Brigitte Schmitz: Abbild/Leitbild – Die Ildefonso Gruppe in der deutschen Kunst, in: Max Kunze und Jorge Maier Allende (Hg.): Legado de Johann Joachim Winckelmann in España, Mainz 2014, S. 207–215.

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