Dienstag, 19. Juli 2022

»… ein Stückchen ewige Seligkeit.«

Unsere Sammlung bekam vor Kurzem etwas Großartiges geschenkt: zwei kleine Gipsgüsse aus dem Nachlass des Bildhauers Walter Rössler (1904–1996). Bei den beiden Gipsen handelt es sich um maßstabgetreue Abgüsse der »Stehenden Aphrodite« und des »Nackten Jünglings mit Ei« aus der Sammlung des Albertinums in Dresden.
Walter Rössler war Gerhard Marcks‘ Schüler an der Burg Giebichenstein in Halle. In der Zeit von 1933 bis 1939 war er Schüler von Karl Albiker (1878–1961) an der Akademie in Dresden. Die beiden Kleinplastiken stammen vermutlich aus dieser Zeit. Auf den »Nackten Jüngling mit Ei« könnte Rössler während seiner Zeit an der »Burg« von Gerhard Marcks aufmerksam gemacht geworden sein. Denn Marcks schrieb 1932 euphorisch einen kleinen Text (»z. B.: eine kleine griechische Plastik«*) für die Zeitschrift »Das Kunstblatt« über ihn:

Gipsabguss des "Nackten Jünglings mit Ei" aus der Sammlung des  Albertinums, Dresden
(Inv. Nr. S1297/22)




»Vor mir steht ein kleines Figürchen, griechische Arbeit; ein Mensch. (Was geneigter Leser, stellt sich bei Dir für ein Bild ein, wenn du das Wort ‚Mensch‘ hörst oder liest?) Ein Jüngling, vielleicht irgendein Gott.
Ein straffer Bau. Die Beine sind etwas voneinander gesetzt, eine offene Schere; er scheint zum Tanz anzutreten. Die Arme machen eine ungleich rudernde Bewegung. Ein paar kecke Vorsprünge helfen, den von den Armen eingefangenen Raum festzuhalten. Rücken und Beine sind ein Pfeilerpaar, oben verbunden, dann getrennt, rhythmisch gestaucht zu Schultern, Gesäß, Oberschenkeln, Unterschenkeln und Hacken. Ebene schiebt sich an Ebene, Berg an Höhlung, in klarer männlicher Zucht. Ein Siegerlächeln rieselt vom Gesicht bis in die Finger- und Zehenspitzen, und, natürlich, ich vergaß es zu sagen: Das Figürchen, nicht daß es lebendig wäre, aber es hat Leben; ist selber Leben; ein Stückchen ewige Seligkeit.«

Neben den beiden Gipsgüssen bewahrte Walter Rössler auch eine Kopie eben jenes Texts auf. 

 


*1932 folgte Marcks der zeitgenössischen kunsthistorischen Auffassung, der Jüngling sei eine griechische Plastik. Heute sind sich die Kunsthistoriker*innen einig, dass er etruskisch ist.