„der Geschichte aber kommt es auf den ,tatenstarken Mann‘
an“ – Marcks aber nicht!
Noch vor einer offiziellen Auftragsvergabe hatte sich
Gerhard Marcks (1889-1981) mit der Person Joachim Nettelbecks (1738-1824) befasst.
Am 30. März 1936 schrieb er an seinen Freund, den Architekten Erich Consemüller
(1902-1957): „Den Nettelbeck habe ich auch ausgelesen. So mit einer Art
Beschämung, was man doch für ein Waschlappen ist: ,Im Anfang war die Tat‘“, so
Marcks. Am 20. März ergänzte er: „Den ganzen Winter, abgesehen von Nettelbeck,
habe ich nur Erbauungslektüre gelesen und das schlägt gut an. Jetzt bin ich bei
Kierkegaard und Pascal, die Dir beide auch gefallen würden.“ Am 4. Februar des
Folgejahres berichtete der Kolberger Museumsdirektor Dr. Nicolai Michailow
schließlich von seinem Besuch bei Gerhard Marcks und über den an ihn
herangetragenen Auftrag, eine Porträtbüste Nettelbecks zu gestalten: „Heute war
ich übrigens bei Marcks, um mit ihm den Nettelbeckkopf zu besprechen.“ Die Finanzierung der von Michailow in Auftrag gegebenen Büste übernahm laut offiziellen
Angaben das Reichsministerium für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung.
Gerhard Marcks, Büste Joachim Nettelbecks, Gips, 1937 |
Marcks schließt mit seiner Arbeit an eine Reihe
von Nettelbeck-Poträts an, die bei J. Gottfried Schadow (1764-1850) ihren Anfang genommen hatte. Während
Schadow in seinem kleinen 1810 in Elfenbein geschnitzten Porträt, der als
Stockgriff diente, den alten, der Bürgerwehr vorstehenden Nettelbeck verewigte
(http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/33075210),
stellte Marcks einen jugendlichen Nettelbeck dar, der weder auf Schadows noch
auf die überlieferte Darstellung des nach Modell gemalten Bildnisses Josef
Faworskis (2. H. 18. Jhdt-1. H. 19. Jhdt.) (http://zbc.ksiaznica.szczecin.pl/dlibra/docmetadata?id=6478&from=publication)
bzw. Friedrich Wilhelms von Drakes (1805-1882) zurückzuführen ist. Während
Michailow diese Tatsache in seinem Museumsführer noch zu erklären versuchte, „Es
erhebt sich nun für den sehr Genauen die Frage, hat Nettelbeck wirklich so
ausgesehen. Unser Bildhauer ist von dem nach Modell gemalten Bildnis des
Faworski ausgegangen. Die Abweichungen sind Korrekturen“, kritisierte Hermann Klaje diese Tatsache in seiner 1940
entstandenen Rezension ganz direkt: „Die Jugend hat ein Recht, sich an
den Abenteuern des jüngeren Seemanns zu erfreuen; der Geschichte aber kommt es
auf den ,tatenstarken Mann‘ an, der an Gneisenaus Seite wirkte. Wie der aussah,
will sie wissen, und darum wird sie sich wohl immer an das Ölgemälde von
Faworski im Hohenzollernmuseum halten“. Marcks entzieht
sich mit dieser als sehr eigen wahrgenommenen Gestaltung einer tradierten Vereinnahmung
der Persönlichkeit Nettelbecks, die in dem von Propagandaminister Joseph Goebbels
(1897-1945) in Auftrag gegebenen Heimatfilm „Kolberg“ ihren „Höhepunkt“ finden
sollte. Sein Bildnis galt dem – wie es Michailow formulierte – „Jugendideal“,
dem „widerspenstigen Bürger Nettelbeck“.