Neben einer Mappe mit Reproduktionen des niederländischen Meisters, die Marcks 1913 geschenkt bekam, sticht aus seinem Konvolut an Rembrandt-Monografien und Ausstellungskatalogen vor allem eine »Liebhaberausgabe« heraus: die 1924 erschienene Künstlermonografie von Hermann Knackfuß. Vermutlich war dieses Buch ebenfalls ein Geschenk, denn auf dem Buchvorsatz hält Marcks neben seinem Namen auch »Weihnachten 1932« fest. Notizen dieser Art sind in den Marckschen Büchern keine Seltenheit (und für seine Erforscher oft wichtige Informationsquellen).
Ungewöhnlich ist dagegen, was es auf der Innenseite des Rückdeckels zu entdecken gibt: Eine grobe Kompositionsstudie, deren Zeichenduktus eine Datierung auf die 1950er-Jahre wahrscheinlich macht.
Acht schemenhafte Figuren sitzen vor einem dunklen Hintergrund an einer Tafel. Die Deutlichste der Figuren sitzt an der linken Ecke des langen Tischs und erinnert mehr an einen Ziegenbock oder Faun als an einen Mann. Trotz der Abstraktion erkennt der Kenner schnell eines der Hauptwerke des späten Rembrandts: »Die Verschwörung des Claudius Civilis« von 1661/62. Das Original befindet sich heute in der Königlichen Schwedischen Akademie der Schönen Künste in Stockholm. Dort hat es Marcks 1954 während einer Schweden-Reise gesehen. Zurück in Köln schreibt er an seinen Freund Richard Scheibe: »In Stockholm stand ich ehrlich ergriffen vor dem ‚Claudius Civilis‘, den er nach der Ablehnung durch den Magistrat für sich umgemalt hat – der schönste Rembrandt, den ich gesehen habe! Haß und Wut hat ihn nicht bedrückt.«
Wie kam aber
nun die kleine Zeichnung in das Buch? Wir wissen es nicht. Aber es ist wahrscheinlich,
dass Gerhard Marcks das Buch in Vorbereitung auf seine Reise bewusst (noch
einmal?) las. Ähnlich wahrscheinlich ist es, dass er das Buch als Reiselektüre
mitnahm. Rein spekulativ (aber nicht unmöglich) ist die Vorstellung, dass er
das Buch mit in die Stockholmer Ausstellung nahm. Spätestens dort wird ihm
aufgefallen sein, dass dieses für das Rembrandtsche Œuvre so wichtige Werk* von
Hermann Knackfuß nicht beachtet und nicht abgebildet worden ist.
Spekulieren
wir weiter: Getreu dem Motto »Wo ein Bildhauer ist, ist auch ein Bleistift«
könnte Gerhard Marcks noch während des Museumsbesuchs die Kompositionsskizze in
seinem Buch festgehalten haben. Er könnte.
Der Skizze selbst ist anzusehen, dass sie keine zeichnerische Reproduktion des Bildes sein sollte. Gerhard Marcks wäre sonst expliziter auf das Vorbild eingegangen, hätte Details hervorgehoben und Farbflächen deutlicher mit Schattierungen herausgearbeitet. Außerdem hätte er sich nicht den kleinen Scherz erlaubt die Hauptfigur des Claudius Civilis als Bock darzustellen.
Nahezu sicher ist aber, dass Gerhard Marcks das Fehlen des Gemäldes in einem seiner Lieblingsbücher auffiel und er mit der Zeichnung das Buch um den für ihn »schönsten Rembrandt« ergänzte.
* Das Ölgemälde nimmt im Œuvre Rembrandts nicht nur wegen seiner Historie als wichtige und später abgelehnte Auftragsarbeit eine Sonderposition ein, sondern auch wegen seiner Lichteffekte und der Farbigkeit. Außerdem hatte das Bild ursprünglich das größte Format in Rembrandts Gesamtwerk. Nach der von Marcks erwähnten Ablehnung wurde es vom Künstler auf ein Maß von 196 x 309 cm verkleinert.